Das große Gaggern (Teil 2)
Der Umzug und viel Tohuwabohu
Kaum gingen die Lampen im Kreißsaal aus, stand plötzlich ein hölzerner Laufstall genau unter der Stehlampe, die mir beim abendlichen Lesen eigentlich immer treu zur Seite stand. Doch damit schien jetzt Schluss zu sein, denn in der Fassung steckte ab sofort eine rote Wärmeleuchte. Wo und wann die frisch gebackene Henne das ganze Zeug organisiert hatte, sollte ihr Geheimnis bleiben. Mich interessierte mehr, wie lange ich mit den Untermietern mein Reich teilen muss. Die Antwort der Henne ließ nicht lange auf sich warten.
“Bis es draußen warm genug ist und du den Hühnerstall bezugsfertig ist.”
Irgendwie, jedoch ohne wirklich über die Auswirkungen dieser Entscheidung länger nachgedacht zu haben, passte diese Aussage in meine Planungen. Denn wer hämmert und sägt schon gerne im Februar draußen vor der Tür rum? Da aber vor Ende März normalerweise nicht mit Temperaturen um die 20° zu rechnen ist, konnte etwas Gas aus meinem auferlegten Hühnerstallprojekt genommen werden.
Das wirklich Bemerkenswerte an all dem, was nach dem Schlüpfen passierte, war wohl die täglich zu beobachtende Verwunderung der Frau, die in den letzten 3 Wochen sich mit Hühnertheorie nur so gefüttert hatte, aber von der Praxis null Ahnung hatte. Kaum hielt nämlich die Viererbande Einzug im Laufstall, passierte immer genau das, was die ständig aufgeregte Ersatzhenne nicht prophezeit hatte.
Doch bevor ich zum immerwährenden Tohuwabohu komme, stelle ich das Pack erst einmal richtig vor. Der, der die meisten Probleme bei der Geburt an den Tag legte und mit einem bräunlichen Federkleid die ersten Gehversuche unternahm, der machte eigentlich am 2. Tag Nägel mit Köpfen, indem er durch sein ganzes Verhalten klar machte, wer hier der Chef im Laden ist. Während die anderen 3 Rabauken sich unter der Wärmelampe immer wieder eine Ruhepause gönnten, blieb er tapfer stehen, obwohl jeder gut beobachten konnte, wie ihm ständig die Augen zufielen. Aber nein, erst musste etwas nervös rumgehobbelt, dann eine Runde um die 3 Faulpelze gedreht werden und erst dann war Ruhe angesagt. Wenn es frisches Futter gab, stand er jedes Mal stolz wie Bolle mitten im Schrot, pickte ein wenig drin rum, um dann darauf zu warten, dass der Rest der Bande angetippelt kam. So sieht dann ein zufriedener Hahn aus. Daher wurde er mit etwas ausgezeichnet, das Titel und Name zugleich war: der Chef. Die erste Dame in Weiß, die einen Rufnamen erhielt, war Točkica (was übersetzt Pünktchen bedeutet). Die Namensgebung erschien mir in ihrer Logik unübertrefflich, da auf ihrem Kopf, mittig im weißen Gefieder sich ein schwarzer Punkt eingeschlichen hatte. Die anderen zwei Schlafmützen mussten sich, da sie nicht mit körperlichen Merkmalen aufwarten konnten, mit Vornamen begnügen, die von der Pflegemutter und Henne bei Oma und Tante kurzerhand ausgeliehen wurden: Paula und Dora.
Nun kann ich mich ganz in Ruhe den Erinnerungen widmen, die diese Viererbande in mein Gedächtnis gebrannt hat.
Von Tag zu Tag konnte (oder durfte) ich nun beobachten, wie immer mehr Leben in den Laufstall kam. Das Gepiepse wurde immer weiter ausgedehnt. Es wurde fortwährend gerannt, gefressen, getrunken, geschissen und geschlafen. Geschlafen am liebsten übrigens in meiner, für die kalten Winter zugelegten, Zipfelmütze. Das dieses wunderbare und immer für Wärme sorgende Wollteil so zweckentfremdet wurde, hat die Bande natürlich der Pflegemutter zu verdanken. Dass ich ab sofort mir ein Satz eisige Ohren einfing, das wurde geflissentlich übergangen.
Am Abend war dann Schluss mit dem Jäps und Trallala. Dann wurde das kleine Reich mit einer Decke verdunkelt und sofort war Ruhe im Schacht. Doch auch das war nicht von langer Dauer. Es dauerte, so glaube ich zumindest, keine acht Tage, da komme ich am Morgen aus dem Schlafzimmer und glaube meinen Augen nicht mehr vertrauen zu können. Der Viererbande war die Flucht aus dem Reservat gelungen und nun war man eifrig dabei all das zu erkunden, was vorher nur durch die Gitterstäbe zu sehen war. Ein riesiger neuer Spielplatz war gefunden. Zwei Dinge fielen mir in der Situation auf. Zum einen, dass der Chef zwar wieder einen auf ganz wichtig macht, sich seine Hühner aber einen Dreck drum scheren und wo wir schon beim Dreck sind, die kleinen Sausäcke überall ihre Scheiße hinterlassen haben. Zum ersten Mal war ich richtig froh über unsere Entscheidung, keine Teppiche auf den Dielenboden gelegt zu haben.
Einmal diese Freiheit genossen, gab es bei dem Pack darauf folgend kein Halten mehr. Zumal sie inzwischen festgestellt hatten, was alles mit Flügeln angestellt werden kann. Allen voran Točkica, die sich als wahre Flugakrobatin entpuppte, was mich und die Pflegemutter staunen und den Chef schier verzweifeln ließ, da der das mit den Flügeln irgendwie überhaupt nicht auf die Reihe bekam. So war das Gejammer jedes Mal riesig, wenn er seine Weiber in die große Freiheit fliegen sah und er hinter den Holzgitterstäben verweilen musste. Aber Hilfe nahte jedes Mal schnell herbei. Dann wurde auch er über alle Barrieren gehoben, um dann mit einem lang gezogenen Sprint schnell wieder seine Position zwischen den Weibern einzunehmen.
Natürlich steht nun die Frage im Raum, wie die Hausherrin das mit der Hühnerkacke gelöst hatte? Da Windeln in dieser Größe nicht verfügbar waren, durfte ich leicht verwundert meine Frau dabei beobachten, wie unsere komplette Wohnung mit Zeitungsseiten ausgelegt wurde. Es war übrigens nicht das erste Mal, dass ich leichte Bedenken bezüglich des Verhaltens meiner Angetrauten hegte. Auch dachte ich kurzzeitig über einen Umzug in den Hühnerstall nach, der draußen langsam aber sicher auch Formen annahm.
Neben den Ausflügen galt für die Bande noch immer als Highlight, wenn frisches Futter nahte. Insbesondere für den Chef, der sich dann immer aufführte, als hätte er gerade die Welt neu erfunden. (Die Welt neu erfinden - aber zu doof zum richtig fliegen!) Als besonderer Leckerbissen erwiesen sich dabei die Mahlzeiten, bei denen dem Schrot ein paar Spaghetti beigemischt waren. Eine kulinarische Vorliebe, die dann auch prompt zum ersten Notfall führte. Was war geschehen? Von der Decke, mit der am Abend der Laufstall verdunkelt wird, hatte sich ein Faden gelöst, der nun halb ins Reservat hing. Paula, die dumme Kuh, dachte anscheinend die Entdeckung schlechthin gemacht zu haben und machte einen Satz um sich diese Nudel zu sichern. Und schon setzte das große Geschrei ein. Aber nicht nur bei Paula, deren Zunge sich mit dem Faden so fest verbandelt hatte, dass das arme Geschöpf mehr oder weniger in der Luft hing, sondern auch bei der herbeigeeilten Henne, Hebamme und Mutter von allem. Was ich aus der ganzen Aufregung herausfiltern konnte, klang ungefähr so:
“Wolfram, hilf mir ganz schnell. Wir brauchen dringend einen Notarzt.”
Kurz wanderte die Frage durch meinen Kopf, ob es bei Tierärzten überhaupt so etwas wie einen Notarzt gibt? Wenn ja, haben die garantiert bereits den Schussapparat parat. Also beschloss ich den Telefonhörer unberührt zu lassen und mir erst einmal ein Bild von dem zu machen, was zu dieser Panik führte. Paula hing und schrie, meine Frau stand und schrie und ich griff in aller Ruhe in die Schublade, holte eine Schere hervor und schnitte den Faden durch. Operation beendet! An diesem Tag genoss ich Narrenfreiheit. Ich war in den Augen meiner Frau der Genialste, nein, das Größte, was Gott je erschaffen hat. Am nächsten Tag war der Bonus jedoch bereits aufgebraucht.
Ein anderer Höhepunkt im täglichen Ritual fand jeden Abend statt, wenn ich meine Schreibarbeiten verrichtete, meine Frau las oder die Fernbedienung für den Fernseher in die Hand nahm. Das Zeichen für Točkica, Paula und Dora unterschlupf bei der großen Henne zu suchen. Dora bevorzugte den Platz unter dem Arm, Točkica saß immer oben auf der Schulter und kuschelte sich an den Hals, während Paula unter den Pullover kroch. Das Gute bei heranwachsenden Hühnern: Wenn sie sich bei der Henne einkuscheln, dann scheißen sie wenigstens nicht. Ganz im Gegensatz zum Chef, der von solchem Weibergedöns gar nichts zu halten schien und ständig verärgert um die riesige Henne und seine Bande eine Runde nach der anderen drehte.
Dann kam endlich der Tag, der nicht nur Sonne, sondern auch genügend Wärme mit sich führte, um der Viererbande zum aller ersten Mal zu zeigen, wie die Natur aussieht. Schnell hatte die Übermutter einen Korb ausgepolstert, das aufgeregte Pack drin verstaut und ab ging die Post. Ein Bild für die Götter: Die Henne sitzt mitten in der Wiese und das Kleinvolk führt sich auf, wie wenn Weihnachten und Ostern zusammen fällt. Laufen, ein wenig fliegen, stolpern, auf den Schnabel fallen, im hohen Gras fast verschwinden und ständig wird was ganz Spannendes entdeckt. Sogar der Chef ist mal ausnahmsweise mit sich und der Welt zufrieden. Ab und zu kam eine zur Henne gerannt, ruhte sich kurz auf ihrem angestammten Platz aus, um gleich darauf wieder loszutoben.
Damit der Tag nicht als reiner Freudentag in die Analen einzugehen drohte, musste noch schnell ein fast tragischer Moment her. Den lieferte dieses Mal Dora, die offensichtlich sich selbst überschätzt und die Wirkung der Sonnenstrahlen unterschätz hatte. Denn plötzlich stand sie vor ihrer Henne und war aufgeplustert wie ein kleiner Ballon. Madame hatte sich doch tatsächlich so was Ähnliches wie einen Hitzeschock geleistet. Jetzt war mal wieder guter Rat teuer. An dem Nachmittag fand mein Rat, sie einfach mal in kaltes Wasser zu tauchen, schlichtweg kein Gehör. Ich glaube sogar mich erinnern zu können, ein paar beleidigende Worte vernommen zu haben. Damit war ich definitiv raus aus der Nummer. Nur kurze Zeit später wurde ich dann Zeuge einer äußerst kreativen Methode ein Küken wieder auf Normaltemperatur zu bringen.
Dora saß mit einem in kaltem Wasser getränkten Kopftuch bei der Henne im Schoß und beobachtete ihre Kolleginnen beim Toben.
Es war meiner Ansicht nach die Zeit gekommen, dass die Viererbande ihre alte Heimat verlässt und endlich kapiert, dass das Leben in der Natur kein Zuckerschlecken ist.
An diesem Tag beschäftigte mich dann doch noch eine weitere Frage:
Waren sich diese 4 Tunichtgut eigentlich damals schon darüber bewusst, dass ihnen ihre Henne das ewige Leben bereits versprochen hatte? Doch auf meine Frage, wie lange Hühner überhaupt leben, konnte auch sie keine überzeugende Antwort liefern. Der Nachbar war folgender Meinung:
“Bis sie nicht im Kochtopf landen.”
Genauer wusste er es auch nicht.


Schöne amüsante Geschichte - und interessant, wie das so ist mit artfremder Haltung (ich meine die der Henne ;-))
Ich hatte schon die Befürchtung, sie wolle auch das Fliegen erlernen ...
Du hast mir im ersten Post versprochen beim zweiten Teil einen eiervergleich zu machen! ;-)
Also deine Frau hat dir alles weggenommen... Leselampe und Mütze?
Heißt das jetzt du stehst in Rangordnung hinter den Hühnern?
Letztens kaufte meine Frau eine Bockwurst am Kiosk... Da hatte ich mich schon gefreut... Sie guckte mich böse an und sagte " is für den Hund "
Posted using Partiko Android
Wir schwimmen offensichtlich auf der gleichen Welle!
Pflaster für innere und äußere Verletzungen habe ich im Reisegepäck.
Die werden natürlich nur ausgepackt, wenn wir ganz unter uns sind!
Grüße
Wolfram
Ich bin zwar Wassermann aber nur ein langsamer Schwimmer , und bei Wellen bleib ich lieber draußen!
Pflaster für innen hab ich auch. Ab und zu Kauf ich mir 20stk davon. Die heißen Holsten oder Freiberger.
Grüße Daniel
Posted using Partiko Android
Die heilen fast jede Wunde!
Ein sehr weiser Mann.
Und eine wunderbare, amüsante Geschichte, die stets am Rande eines Dramas wandelt. 😎
Vielleicht ist ja der Alltag das Drama, welches erst durch solche Protagonisten die Prise Komik erhält?
Guten Morgen Wolfram, total süße Geschichte von euren Hühnchen. Upvote und follow anbei. Liebe Grüße Alexa
Das lässt mich zuversichtlich in die Zukunft schauen. :)
wie mir deine geschichte bekannt vorkommt :-)
habe ja selber 3 handaufzuchts chickis gehabt--eine bereicherung meines lebens,was den start als federtier retterin in gang brachte....
sie werden sich ein leben lang an ihre mama erinnern--also eigentliche mama...
bin gespannt,was eure rasselbande noch alles auf lager hat-
lg feuerelfe
So viel kann ich dir versichern: Sie haben aus dem angebotenen Repertoire so gut wie nichts ausgelassen.
LG
Wolfram
Servus,
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