Der Mythos vom fehlenden Geltungsbereich – Warum unsere Gesetze trotzdem gelten

in #deutsch22 days ago (edited)

Viele haben es schon einmal gehört:
„Die Gesetze gelten gar nicht mehr – der Geltungsbereich wurde gestrichen!“

Dieses Argument taucht besonders in Reichsbürger-Kreisen auf und wirkt auf den ersten Blick sogar logisch. Wenn ein Gesetz keinen Geltungsbereich hat – wo und für wen soll es dann überhaupt gelten? Behörden reagieren auf solche Einwände meist einsilbig oder gar nicht. Das verstärkt den Eindruck, dass da „etwas dran“ sein könnte.

Zeit, das genauer zu beleuchten.


Woher die These kommt

Früher hatten manche Gesetze in Deutschland einen Paragrafen, in dem stand, wo sie gelten. Beispiel:

  • im Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG),
  • im Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) oder
  • in der Zivilprozessordnung (ZPO).

Diese Passagen wurden in den 1970er/80er Jahren gestrichen, weil sie überflüssig waren. Reichsbürger leiten daraus ab: „Dann sind die Gesetze unwirksam!“


Die juristische Realität

Das ist schlicht falsch.

  1. Art. 82 GG sagt klar: Ein Gesetz gilt, sobald es verfassungsgemäß beschlossen und im Bundesgesetzblatt verkündet ist.
  2. Der „Geltungsbereich“ ergibt sich aus der Verfassung selbst:
    • Art. 20 Abs. 2 GG: Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus.
    • Art. 30 GG: Die Ausübung der staatlichen Befugnisse liegt bei Bund und Ländern.
    → Klarer kann man es nicht sagen: Gesetze gelten in Deutschland, weil das Grundgesetz den Rahmen, den Geltungsbereich vorgibt.
  3. Gerichte – bis hin zum Bundesverfassungsgericht – haben die Geltungsbereichs-These dutzendfach verworfen.

Warum wurde der Geltungsbereich gestrichen?

Weil er schlicht überflüssig war.

Man schreibt ja auch nicht in jedes Strafgesetzbuch hinein: „Das gilt in Deutschland“. Das ist selbstverständlich, weil die Verfassung die Zuständigkeit regelt. Der Hinweis war eine redaktionelle Doppelung – nicht mehr.


Wo genau der Denkfehler liegt

Ein Geltungsbereich beschreibt normalerweise nur den räumlichen oder sachlichen Anwendungsbereich eines Gesetzes. Beispiele:

  • Im Straßenverkehrsgesetz (§ 1 StVG) steht, dass es „für den öffentlichen Verkehr auf Straßen“ gilt.
  • Ein Landesgesetz kann ausdrücklich nur für das jeweilige Bundesland gelten.

Bei den alten Einführungsparagrafen von OWiG, GVG oder ZPO stand im Prinzip nur drin: „Dieses Gesetz gilt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland.“

Juristisch ist das aber trivial, weil sich dieser Geltungsbereich schon aus der Verfassung ergibt:

  • Das Grundgesetz legt fest, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt hat.
  • Ein Bundesgesetz, das ordnungsgemäß beschlossen und verkündet wurde, gilt damit automatisch im gesamten Bundesgebiet.

Der Denkfehler ist also: Man hält die Geltungsbereichs-Formel für die eigentliche Rechtsgrundlage des Gesetzes – dabei ist sie nur ein Hinweis, nicht die Grundlage.
Wenn man sie streicht, ändert das am Bestand des Gesetzes nichts.


Der Mythos von den aufgehobenen Gesetzen (Art. 23 GG & Bereinigungsgesetz)

Oft wird behauptet:

  • „Der Bundestag musste alle Gesetze mit fehlendem Geltungsbereich wegen Art. 23 GG aufheben.“
  • „Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Gesetze ohne Geltungsbereich sind ungültig.“
  • „Mit dem Ersten Bereinigungsgesetz 2006 wurden die Einführungsgesetze von ZPO, StPO, OWiG und GVG ersatzlos aufgehoben.“

Das klingt dramatisch – ist aber ein Mix aus aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten und Missverständnissen.

1. Das angebliche BVerfG-Zitat

„Gesetze ohne Geltungsbereich besitzen keine Gültigkeit und Rechtskraft.“

  • Dieses Zitat findet sich in keinem Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
  • In den angegebenen Entscheidungen (BVerfGE 3, 288; 6, 309) ging es um Bestimmtheit von Gesetzen (u. a. Zollgesetz), nicht um die Existenz eines Geltungsbereichs-Paragrafen.
  • Richtig ist: Gesetze müssen inhaltlich bestimmt sein. Das heißt aber nicht, dass sie eine „§-Formel“ mit Geltungsbereich brauchen.

2. Art. 23 GG

  • Der alte Art. 23 GG listete die Bundesländer auf, für die das Grundgesetz zunächst galt (Westdeutschland).
  • Nach der Wiedervereinigung war das überflüssig und wurde durch den neuen Art. 23 GG (EU-Bezug) ersetzt.
  • Das bedeutet nicht, dass die Bundesrepublik aufgehört hätte zu existieren. Es war eine Anpassung an die neue Lage.

3. Das Erste Bereinigungsgesetz 2006

  • Richtig ist: Mit diesem Gesetz wurden zahlreiche alte Einführungsgesetze gestrichen.
  • Diese Einführungsgesetze hatten aber nur Übergangsregelungen bei der Einführung von ZPO, StPO, OWiG oder GVG.
  • Die Hauptgesetze selbst gelten selbstverständlich weiter – sie sind regelmäßig geändert und im Bundesgesetzblatt verkündet.

Der Trick der Reichsbürger-Argumentation:
Sie tun so, als sei mit der Streichung der Einführungsgesetze auch das Hauptgesetz „aufgehoben“, weil der Geltungsbereich nicht mehr explizit benannt wird und somit angeblich wegen fehlender Rechtssicherheit nichtig sei. Das ist schlicht falsch, weil der Geltungsbereich sich durch das Grundgesetz bereits automatisch definiert – und zwar für alle Gesetze.


Warum zieht die These trotzdem?

  • Behörden antworten oft nicht: Wer eine Anfrage stellt, bekommt selten eine saubere Begründung zurück. Das wirkt verdächtig.
  • Oberflächlich plausibel: „Kein Geltungsbereich = keine Geltung“ klingt wie einfache Logik.
  • Unwissen: Viele kennen Art. 82 GG oder die Struktur des Grundgesetzes nicht.

Fazit

Die „fehlender Geltungsbereich“-These ist ein Denkfehler.
Gesetze gelten nicht wegen eines einzelnen Paragrafen, sondern weil sie durch Parlament und Bundesrat beschlossen, vom Bundespräsidenten ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet werden.

Das Grundgesetz selbst regelt den Rahmen. Der Geltungsbereich ist keine Variable, die man streicht und plötzlich herrscht Chaos – er ist längst definiert, quasi fix in der Verfassung verankert.

Kurz: Unsere Gesetze sind gültig. Der Mythos vom fehlenden Geltungsbereich ist genau das – ein Mythos.

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Ich war früher selbst an diesen Punkten: Habe Polizisten nach Amtsausweisen gefragt und gedacht, da fehlt was. Heute weiß ich, warum diese Argumente ins Leere laufen – und genau deshalb schreibe ich hier darüber.

Damit andere schneller zur Klarheit kommen, als ich es damals konnte.

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Curated by: @ adeljose