Keine Wahl mehr – wie verfassungswidrige Rhetorik die politische Mitte zerreißt

in #deutsch13 hours ago

Dies ist eine der schmerzhaftesten Analysen, die ich bisher veröffentlicht habe – auf Steemit wie insgesamt. Nicht, weil sie radikal wäre, sondern weil sie nüchtern das beschreibt, was viele längst spüren, aber kaum jemand auszusprechen wagt: Dass sich die politische Mitte nicht durch Extreme auflöst, sondern durch den Verlust an Rechtsbindung.

Immer mehr Bürger fühlen sich politisch heimatlos – nicht, weil sie radikaler würden, sondern weil sich etablierte Parteien von den Maßstäben des Grundgesetzes lösen. Wer den Rechtsstaat ernst nimmt, findet sich plötzlich bei jener Partei wieder, die nüchtern weiter auf das Gesetz verweist. Der Bruch verläuft nicht zwischen links und rechts, sondern zwischen Haltung und Rechtsbindung.

1) Wenn Moral Recht ersetzt

Was früher Maßstab war – das Grundgesetz – wird zunehmend moralisch interpretiert. Artikel 1 oder 20 GG dienen als politische Chiffren, nicht mehr als rechtlich bindende Normen. Doch der Rechtsstaat kennt keine „guten Zwecke“, die Eingriffe ohne gesetzliche Grundlage legitimieren. Er beruht auf Bindung, nicht auf Gesinnung.

2) Entgrenzter Staatsbegriff

Besonders sichtbar wird der Verlust an rechtlicher Orientierung in Fragen von Migration und Staatsangehörigkeit. Rechtliche Kategorien werden politisch überdehnt; der nüchterne Gesetzesbezug (z. B. Art. 116 GG) weicht moralischer Rhetorik. Wer an den Gesetzestext erinnert, gilt rasch als „reaktionär“ – ein Signal, wie weit sich die politische Klasse vom Verfassungstext entfernt hat.

3) Das Muster der Selbstermächtigung

  1. Es wird ein moralischer Notstand behauptet,
  2. mit Eilgesetzgebung reagiert,
  3. und in Freiheitsrechte eingegriffen.

Kritik daran wird als „demokratiefeindlich“ etikettiert. So wird die FDGO vom Schutzsystem für alle zur Waffe gegen Andersdenkende – und verliert ihre integrative Kraft.

4) Der Kipp-Punkt: Beweislastumkehr als Dammbruch

Exemplarisch steht die jüngst geforderte Beweislastumkehr bei Vermögensherkünften. Politisch mag das als „ehrlich“ erscheinen – juristisch ist es verfassungswidrig.

  • Unschuldsvermutung: Niemand muss seine Unschuld beweisen. Die Last liegt beim Staat. Das folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und der EMRK-Logik von in dubio pro reo.
  • Selbstbelastungsverbot (nemo tenetur): Der Staat darf den Bürger nicht in eine Pflicht treiben, gegen sich selbst Beweise zu liefern.
  • Verhältnismäßigkeit & Eigentum (Art. 14 GG): Eine pauschale Umkehr der Beweislast gefährdet den Eigentumsschutz und überschreitet den legitimen Zweck-Mittel-Rahmen.

Wer öffentlich eine Beweislastumkehr feiert, normalisiert damit einen Rechtsbruch. Bürger mit Sinn für die FDGO wandern dann dorthin ab, wo wenigstens noch auf die Norm verwiesen wird – nicht aus Sympathie, sondern aus Konsequenz.

5) Warum Wähler abwandern

Wer das Grundgesetz relativiert, treibt Verfassungstreue in die Opposition.

Viele AfD-Wähler wählen nicht trotz, sondern wegen ihres Rechtsstaatsverständnisses. Sie verlangen keine Revolution, sondern die Rückkehr zum Gesetz. Jede verfassungswidrige Forderung – ob Beweislastumkehr, ideologisch motivierte Enteignung oder Sprechverbote – bestätigt ihnen, dass die anderen Parteien den Boden der Rechtsbindung verlassen.

6) Rückkehr zur Rechtsbindung

Die politische Mitte zerfällt nicht an Populismus, sondern an Beliebigkeit. Vertrauen kehrt zurück, wenn Politik wieder den Mut hat, Recht über Moral zu stellen. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist kein Deutungsrahmen – sie ist geltendes Recht. Solange große Parteien Legitimation über Haltung statt über das Grundgesetz ableiten, bleibt vielen Bürgern nur eine rationale Wahl: jene, die das Gesetz noch zitieren.

Nicht aus Überzeugung, sondern aus Konsequenz.

7) Der Rechtsbruch hat Namen – Beispiele aus Politik und Praxis

Die folgenden Entwicklungen zeigen, wie weit sich politische Rhetorik und Regierungspraxis bereits vom Geist des Grundgesetzes entfernt haben:

a) Strafrecht & Sicherheitsrecht

  • Forderung nach einer Beweislastumkehr bei Vermögensherkünften – offen verfassungswidrig (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 2 EMRK).
  • Diskussion um präventive Sicherungsverwahrung ohne konkrete Tat – Bruch des Schuldprinzips.
  • Ausweitung von § 130 StGB („Volksverhetzung“) auf Meinungsäußerungen – unklare Grenzen, Gefahr für Art. 5 GG.

b) Eigentumsrecht & Wirtschaftsordnung

  • Forderungen nach Enteignung privater Wohnungsunternehmen („Deutsche Wohnen & Co enteignen“) – politisch motiviert, nicht gemeinwohlgebunden (Art. 14 GG).
  • Planung eines Vermögensregisters mit Offenlegungspflichten – drohende Umkehr des Eigentumsschutzes.
  • Klimaschutz als quasi-verfassungsrechtliche Kategorie – dient als Rechtfertigung für Eingriffe in Eigentum und Berufsfreiheit (Art. 12, 14 GG).

c) Staatsangehörigkeit & Migration

  • Geburtsortsautomatik ohne Integrationsnachweis – löst Staatsangehörigkeit von tatsächlicher Bindung (Art. 116 GG).
  • „Haltungsbeamte“ im öffentlichen Dienst – Bruch mit Art. 33 Abs. 5 GG (Neutralitätspflicht).
  • Duldungspolitik statt Rechtsvollzug – Erosion des Gesetzesvollzugsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG).

d) Meinungsfreiheit & Medienordnung

  • NetzDG und DSA: faktische Zensur über Plattformhaftung – Einschränkung freier Meinungsäußerung (Art. 5 GG).
  • Politisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – Verlust der Staatsferne und Objektivität.
  • Cancel Culture an Universitäten – Verletzung der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG).

e) Justiz & Verwaltung

  • Verweigerte Aufsicht und Untätigkeit von Bezirksregierungen und Kommunalaufsichten – Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG.
  • Rechtsschutzverweigerung durch Formalismus (z. B. Berufung auf § 73 Abs. 3 SGG) – Aushöhlung des effektiven Rechtsschutzes.
  • Fehlende Verantwortlichkeit von Amtsträgern – keine Sanktionen bei strukturellem Rechtsbruch, Entkopplung von Pflicht und Verantwortung.

f) Überwachung & Grundrechte

  • Präventive Telekommunikationsüberwachung nach § 100a StPO – von der Bundesregierung als „Modernisierung“ verkauft, aber grundrechtswidrig in der Logik des Art. 10 GG.
  • Anlasslose Chatkontrolle auf EU-Ebene – trotz offizieller Ablehnung faktisch durch „präventive“ Systeme eingeführt.
  • Technische Überwachung durch Drohnen im Inland – ohne richterliche Anordnung, mit massiver Eingriffsqualität in das Recht auf Privatsphäre (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG).

Diese Beispiele zeigen: Der Rechtsstaat wird nicht durch eine einzelne Partei gefährdet, sondern durch jene, die meinen, ihn im Namen „höherer Werte“ dehnen zu dürfen. Wer den Verfassungsrahmen verlässt, mag sich moralisch im Recht fühlen – juristisch steht er außerhalb.

Rechtsbindung ist kein Hindernis. Sie ist das Fundament der Freiheit.