RE: Irenäus Eibl-Eibesfeldt, in der Falle des Kurzzeitdenkens
Während die ihm vertrauten Personen Verhaltensweisen freundlicher Zuwendung auslösen, zeigen die Kinder bei der Begegnung mit Fremden eine Mischung von Verhaltensweisen der Zuwendung mit solchen deutlich angstmotivierter Meidung. (72f.)
Im typischen Fall lächelt das Kind den Fremden an und birgt sich dann nach einer Weile scheu an der Brust der Mutter, um danach wieder freundlichen Blickkontakt mit der ihm unbekannten Person aufzunehmen. Es verhält sich ambivalent, offenbar werden hier zwei Verhaltenssysteme gleichzeitig aktiviert: eines der freundlichen Kontaktbereitschaft – man könnte von einem affiliativen oder prosozialen Verhaltenssystem sprechen – und eines der Meidung, das dem abweisend-feindlichen (agonistischen) System zuzuordnen ist. Denn wenn sich der Fremde nähert, kann das starke Angstreaktionen auslösen, auch wenn das Kind auf dem Schoß der Mutter sitzt. Und versucht er (oder sie) gar, das Kind an sich zu nehmen, dann wehrt es sich. Schlechte Erfahrungen mit Fremden sind keineswegs die Voraussetzung für die Entwicklung einer solchen kindlichen Fremdenscheu, und da wir sie überdies in allen daraufhin untersuchten Kulturen antreffen, dürfte es sich um eine uns angeborene universale Reaktionweise handeln.
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Nach Mario Erdheim (1997) löst »bedrohliche Abwesenheit« der Mutter »Fremdenfurcht« aus. »In seiner primitivsten Form ist das Fremde die Nicht-Mutter. Und die bedrohliche Abwesenheit der Mutter läßt Angst aufkommen. Angst wird auch später mehr oder weniger mit dem Fremden assoziiert bleiben, und es bedarf immer einer Überwindung, um sich dem Fremden zuzuwenden« (S.103). An dieser Aussage ist richtig, daß die kindliche Fremdenscheu funktionell die Mutter-Kind-Bindung absichern hilft. Ein Kind zeigt bei Annäherung des Fremden jedoch auch dann Scheu, wenn es auf dem Schoß der Mutter sitzt. (73f.)
Diese als »Trennungsfurcht« zu beschreiben, wie es oft geschieht, ist insofern problematisch, als das dem Säugling unterstellt, er würde die Situation so interpretieren. Aber darüber, was der Säugling erlebt und denkt, können wir keine Aussage machen. Außerdem löst ein Fremder nicht nur Meidereaktionen aus, sondern auch deutliche Anzeichen sozialer Kontaktbereitschaft wie Lächeln und Blickkontakt. Alle solche Reaktionen scheinen ganz unreflektiert spontan aufzutreten als Ausdruck einer klaren Ambivalenz. Offenbar ist der Mensch Träger von Merkmalen, die sowohl Zuwendung wie Abkehr auslösen.
Moderner ausgedrückt:
Sicherheits- und Erregungsbedürfnis/system
https://m.portal.hogrefe.com/dorsch/zuercher-modell-der-sozialen-motivation/
ausführlicher erklärt: https://www.nicebread.de/research/ZM/zm.html
Ich danke dir vielmals. Schaue ich mir genauer an.