Hätte ich dich doch mehr in mein Leben gelassen ...

in Steem Germany2 months ago

Wer kennt sie nicht, diese ganz alltäglichen Familienprobleme? Aus der sprichwörtlichen Mücke wird blitzschnell ein Elefant – und wenn’s dann mal richtig scheppert, mit den Eltern, Geschwistern oder mit den eigenen Kindern.

Innerhalb der Familie steigert man sich irgendwie viel leichter in einen Streit hinein, als wenn man die Sache mit jemand Außenstehenden hätte. Ich kenne wirklich viele Leute, die mit ihren Verwandten komplett gebrochen haben. Klar, ich will da kein Urteil fällen – wer bin ich denn, um zu sagen, ob das gerechtfertigt ist oder nicht?

Aber eins will ich einfach mal loswerden: Mein Bruder ist jetzt genau vor elf Jahren mit nur 55 Jahren an einem Schlaganfall gestorben. Auch ich hatte zeitlebens eher ein distanziertes Verhältnis zu ihm. Er war mir gegenüber zwar immer ziemlich großzügig, und hat vor anderen auch gerne mal ein bisschen mit mir geprahlt, aber unser Verhältnis war trotzdem immer eher... sagen wir: norddeutsch kühl. Mein Bruder war ein spezieller Mensch – vor allem, weil er von klein auf richtig schlecht gesehen hat. Seine Sehkraft wurde immer weniger, bis er schließlich als blind galt und nur noch so schemenhafte Umrisse erkennen konnte.

Er wurde sein Leben lang oft gemieden, manchmal auch ein bisschen gehänselt, und hat sich dann immer mehr zurückgezogen. Dabei hat er eine Art entwickelt, die ihn irgendwie noch mehr zum Außenseiter gemacht hat. Er war wirklich schlau, aber leider auch ziemlich rechthaberisch. Heute, ein paar Tage vor meinem 60. Geburtstag, sehe ich das alles mit ganz anderen Augen. Ich würde heute komplett anders mit ihm umgehen, ihn mehr akzeptieren und ihn auch viel bewusster in mein Leben und das meiner kleinen Familie einbinden. Damals? Da hat man sich, wenn überhaupt, nur zu Geburtstagen oder besonderen Anlässen gesehen. Mehr Kontakt? Fehlanzeige. Und ja, das bereue ich wirklich sehr.

Kommt diese magische Weisheit wirklich erst mit dem Alter? Ich habe da so meine Zweifel. Aber eines ist sicher: Der Blick auf das eigene Leben und auf die anderen Menschen ändert sich einfach mit den Jahren. Vielleicht sollte der eine oder andere, der wenig Kontakt zu seiner Familie hat oder mit jemandem verkracht ist, mal versuchen, die Wogen zu glätten oder einfach wieder den Kontakt zu suchen. Ich weiß, das ist nicht leicht – manchmal kostet es Überwindung, manchmal braucht es mehrere Anläufe. Besonders wenn das Gegenüber genauso stur sagt: “Nö, jetzt will ich auch nicht mehr.”

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Glaubt mir, wenn der Tag kommt, an dem der andere plötzlich einfach weg ist, dann kann es passieren, dass man es bitter bereut, es nicht wenigstens versucht zu haben. Am Ende warten beide nur darauf, dass der andere den ersten Schritt macht. Oft hilft es, einfach mal selbst über seinen Schatten zu springen und die Hand auszustrecken.

Ich selbst bereue es, wie gesagt, sehr. Mein Bruder geht mir oft durch den Kopf. Und ja – unsere Mutter war praktisch die einzige Familie, die am Ende noch übrig geblieben ist. Nachdem meine Schwester tödlich verunglückt ist und ich zu meinem Vater oder seiner Seite der Familie nie wirklich Kontakt hatte, ist da sonst eigentlich niemand mehr. Meine Mutter war adoptiert, der Zweig ist quasi auch nicht mehr vorhanden.

Heute sehe ich das an meiner kleinen“Minifamilie”: mein Sohn, meine Lebensgefährtin, mit der ich bald 40 Jahre zusammen bin. Gerade, wenn man älter wird (ich habe ja schon erwähnt, dass ich bald 60 Jahre auf dem Buckel habe), gesundheitlich nicht mehr der Frischeste ist und auch die eigenen Zukunftsperspektiven... na ja, sagen wir, nicht die besten sind – aber damit habe ich mich mittlerweile arrangiert.

Vielleicht regt mein kleines Geschreibsel ja den einen oder anderen dazu an, mal nachzudenken, ob es sich nicht doch lohnt, einen Schritt auf jemanden zuzugehen, mit dem man lange keinen Kontakt mehr hatte oder bei dem die Wogen nicht geglättet sind. Ich würde mich jedenfalls freuen.

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